Vgl.: Rhetorik / Poesie / Literatur / Psychoanalyse und Sprache
Seelische Reinigung, Läuterung. Nach Aristoteles Läuterung des Zuschauers durch die Tragödie, indem sie in ihm Furcht und Mitleid erweckt."
[Wahrig: Deutsches Wörterbuch ]·
Katharsis (griech.) Reinigung, Läuterung.
In seiner Poetik behauptet Aristoteles, dass die Zuschauer bei einer <Tragödie> eine <Reinigung> erleben, und zwar dadurch, dass in ihnen «Jammer und Schaudern» (gr. eleos und phobos; früher übliche Übersetzung: Mitleid und Furcht) erregt wird. Was darunter näher zu verstehen sei, war besonders in der Ästhetik* des 18. Jh. umstritten. Im Gegensatz zu damaligen Deutungen (z. B. bei Lessing) schließen neuere Interpreten aus, dass es sich bei der k. um eine moralische oder sittliche Läuterung handle. Statt dessen geht es um das eigentümliche Lustgefühl, das mit den Erregungszuständen verknüpft ist, in die man als Zuschauer einer Tragödie versetzt und von denen man wieder befreit wird. So wird in der neueren Diskussion die aristotelische k. eher als Affektabfuhr denn als moralische Läuterung verstanden."
[Hügli, Anton/Lübcke, Poul (Hg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart . Reinbek: Rowohlt, 1991, S. 315-316]·
Katharsis
Zentralbegriff der aristotelische Tragödientheorie: Nach Aristoteles (Poetik 6) löst die Tragödie, indem sie «Jammer und Schaudern» (gr. éleos und phóbos ) bewirkt, eine «Reinigung» des Zuschauers «von eben derartigen Affekten» aus. «Jammer» und «Schaudern» sind bei Aristoteles in erster Linie als psych. Erregungszustände aufgefasst, die sich in heftigen phys. Prozessen äußern. In diesem Sinne begegnen die Begriffe éleos und phóbos auch schon in der voraristotel. Literaturtheorie, so bei dem Rhetoriker Gorgias und bei Platon (Ion 535c-e). Der Begriff Katharsis begegnet vor Aristoteles dagegen nur in theolog. (als Purifikation, Reinigung von Befleckung) und medizi. Kontexten (Purgierung, Ausscheidung schädl. Substanzen). Bei Aristoteles ist der Begriff der Katharsis psychologisch gemeint: als die befreiende Affektenladung und das damit verbundene psych.-phys. Lustgefühl (gr. hedone ). Die Wirkung der Tragödie ist damit psychotherapeut. aufgefasst: sie schafft Gelegenheit zur Befreiung aufgestauter Affekte. Ähnl. äußert sich Aristoteles über die Wirkung orgiast. Musik.
Die neuzeitliche Diskussion des Katharsis-Begriffs setzt mit dem Humanismus ein. Die übl. Wiedergabe von gr. éleos und phóbos durch lat. misericordia (Mitleid) und metus (Furcht, neben terror , Schrecken) bedeutet dabei im Ansatz eine Neuinterpretation des Aristoteles. F. Robortello deutet Katharsis als Inmunisierung der Seele gegen Affekte . Hier zeigt sich der Einfluss der stoischen ataraxia/constantia -Lehre, die v. a. für das Trauerspiel des 17. Jhs . von nachhalt. Bedeutung ist. Eine weitere für die Entwicklung der neuzeitl. Tragödie folgenschwere Umdeutung des aristotelischen Katharsis-Begriffs vollziehen V. Maggi und B. Lombardi : sie legen der Katharis erstmals ethische Bedeutung bei. Sie verstehen Katharsis nicht mehr als Befreiung von Mitleid und Furcht (wie Robortello), sondern als Reinigung von den Leidenschaften, die in der Tragödie zur Darstellung kommen: Mitleid mit dem Helden der Tragödie (der deshalb im aristotel. Sinne ein «mittlerer Mann» sein soll) und Furcht vor einem ähnl. Schicksal führen zur sittlichen Läuterung des Zuschauers.
Diese Umdeutung der aristotel. Tragödientheorie wird durch P. Corneille aufgegriffen («Discours de la tragédie», 1660). Im Anschluss an ihn wird die Tragödie endgültig zum barocken Märtyrerdrama, das durch die Darstellung von Tugenden und Lastern dem Zuschauer als belehrendes Exempel dienen soll; das Martyrium des tugenhaften Helden erregt Mitleid ( pitié ), die Laster des Tyrannen, das Rasen der Affekte lösen im Zuschauer Abscheu und Schrecken ( terreur ) aus. Die aristotelische Forderung nach dem «mittleren Mann» wird damit fallengelassen.
Hier setzt G. E. Lessing s Kritik an Corneille ein: Er lehnt das Märtyrerdrama ab und weist auf das Postulat des «mittlere Mannes» hin. Der entscheidende Affekt, den die Tragödie beim Zuschauer auslöse, ist für ihn das Mitleid : Furcht wird diesem als «das auf uns selbst bezogene Mitleid» subsumiert; Katharsis bezieht Lessing wieder auf Mitleid und Furcht, er versteht unter Katharsis ganz im bürgerl.-aufklär. Sinne die « Verwandlung » der durch die Tragödie erregten Affekte « in tugenhafte Fertigkeiten ».
Während Lessings philanthrop. Deutung der Katharsis, die lange Zeit kanonische Bedeutung hatte, letztl. immer noch in der Tradition der humanist. Poetik mit ihrer pädagog. Tendenz steht, kehrt J. G. Herder zu den kult. Wurzeln der Tragödie zurück. Er interpretiert die Katharsis in religiösen Sinne als «heilige Vollendung», die Tragödie selbst als «Sühngesang». Dem entgegen steht Goethe s der klassizist. Kunsttheorie verpflichtete Aristotelesinterpretation nach der Katharsis die alle Leidenschaften ausgleichende «aussöhnende Abrundung» der Tragödie sei («Nachlese zur aristotel. Poetik», 1827). W. Schadewaldt s Rückkehr zur einer psycholog.-psychotherapeut. Auffassung der Katharis (phóbos und éleos als «Schaudern» und «Jammer») entspricht den archaisierenden Tendenzen in der zeitgenöss. Rezeption der antiken Tragödie (C. Orff). B. Brecht s Theorie des ep. Theaters geht von der aristotel. Katharsis-Lehre in der Deutung Lessings aus. Er fordert die Ablösung der auf emotionaler Basis beruhenden Katharsis des einzelnen durch rationale und kritische Reaktionen, die an ein spezif. Klasseninteresse gebunden sind."
[Metzler-Literatur-Lexikon: Begriffe und Definitionen , hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, ²1990, S.234-235]