Gedächtnis und Biografie
rox. Noch immer sucht die Wissenschaft nach der Verstehensformel, die den Menschen und das Tier zueinander in die notwendige Nähe setzt, sie aber doch nicht miteinander verschwistert. Der Physiologe Hans J. Markowitsch und der Psychologe Harald Welzer warten nun mit einem hirnorganischen Erklärungsansatz auf. Es sei das Gedächtnis, das den menschlichen Geist von dem anderer Primaten und anderer Säugetiere überhaupt unterscheidet. Nur der Mensch verfüge über ein Erinnerungsvermögen, das in der Lage ist, «Ich» zu sagen und autobiografische Aussagen zu machen. Entsprechend besitze nur der Mensch eine besondere Lebensgeschichte, eine bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft. Auch in evolutionärer Perspektive ist das autobiografische Gedächtnis mit einem enormen Anpassungsvorteil verbunden. Es schaffe nämlich die Möglichkeit, sich bewusst und reflexiv zu dem zu verhalten, was einem bisher widerfahren sei. Für die beiden Wissenschafter ist die evolutionäre Erfolgsgeschichte des homo sapiens sapiens elementar mit seinem reflexiven Gedächtnis verbunden; nur der Mensch könne langfristige Folgen des eigenen Handelns antizipieren. Das mag alles nicht sehr neu klingen, doch die beiden Autoren unterlegen ihre Thesen mit Forschungsresultaten aus der neueren Hirnphysiologie.
Neue Zürcher Zeitung, 3. Dezember 2005, Ressort Feuilleton
Wir leben und denken und nehmen wahr und handeln in der Zeit, und Zeit bedeutet Sequenz, und Sequenz begründet die Erzählung ....Geschichten sind linear, selbst wenn ihr Gegenstand es oft nicht ist, und sie bleiben auch dann linear, wenn sie unchronologisch erzählt werden..."
John Barth
Ein normaler Mensch ist vielleicht der, der in der Lage ist, seine eigene Geschichte zu erzählen. er weiss woher er kommt, er hat einen Ursprung, eine Vergangenheit, ein funktionierendes Gedächtnis, er weiss wo er ist (seine Identität), und er glaubt zu wissen, wohin er geht, er hat Ziele und am Ende den Tod vor sich. Also befindet er sich in einer Vorwärtsbewegung einer Erzählung, er ist eine Geschichte, er kann sich mitteilen.
Jean Claude Carriere zitiert Oliver Sacks
"Immer wenn wir denken, haben wir im Bewusstsein irgendein Gefühl, Bild, Konzept oder eine andere Vorstellung gegenwärtig, die als Zeichen dient. Jeder frühere Gedanke hat für den folgenden Gedanken eine gewisse Bedeutung, das heißt, er ist für ihn das Zeichen für etwas."
(Peirce, Charles Sanders: Collected Papers. Harvard University Press, 1931 - 1958)